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"mal ganz fern und mal ganz nah...
...und nicht immer geradeaus"

Nordseeküstenradweg - England von Harwich nach Newcastle

14.08.2016 - 27.08.2016

Titelbild Englandradtour

Für den Sternschnuppenmonat August organisierte unser England-affiner Micha eine Radtour auf der größten europäischen Insel entlang der englischen Nordseeküste von Süd nach Nord auf der National Cycling Route (Nationalroute) 1 – mit Kliffs und Steil­küsten, aber auch Dünengürteln und Moorlandschaften, vorbei an vielen malerischen Küstenorten, auf stillgelegten Bahnstrecken und auch mit mehreren Tagesstrecken, die durch Monokultur-Anbau langweilten. Insgesamt fuhren wir 750 Kilometer mit dem Rad und kamen, von Harwich startend, an Ipswich, Lincoln, Boston, Hull und Scarborough vorbei.

Auf einigen Teilstrecken nahmen wir die National Railway in Anspruch – das ambitionierte Ziel Newcastle wäre sonst nicht machbar gewesen und auch die Stadt York entging aus Zeit­gründen unserer Besichtigung. Am Ende der Tour hatten wir 1000 Kilometer, größtenteils mit dem Rad, zurückgelegt, und sind in den knapp zwei Wochen nicht nur sehr viel Fahrrad gefahren, sondern haben auch immens viel gesehen von Eng­land. Darüber hinaus waren wir täglich und immer an der frischen Luft und haben Muskelgruppen aktiviert, von denen wir gar nichts mehr wussten. Wir empfehlen euch diese Art zu reisen und Land und Leute kennenzulernen sehr!


Bericht

Tag 1

Am 13. August 2016 starteten wir aus Berlin, Leipzig und dem hohen Norden mit diversen Zügen zum Fährhafen Hoek van Holland, wo die Fähre am Abend an die britische Küste ablegen sollte. Dank moderater Regelungen der Fahrradmitnahme in Zügen, vor allem in Holland, war es zwar eine recht lange und anstrengende, aber problemlose Anreise. Zu dem Zeitpunkt wusste auch noch keiner, dass Fahrradmitnahme in britischen Zügen ungleich komplizierter war und ist.

Jedenfalls lief alles prima und am späten Abend checkten wir auch auf unserem Schiff ein. Es war ein Riesenfährschiff, die Stena Brittanica der Stena Line, mit neun oder mehr Etagen (Decks) und wir brauchten schon eine Weile, um die Fahrräder im Bauch des Schiffes zu verzurren und anschließend unsere Kabinen klar zu machen. Da dringend geraten wurde, alles Gepäck abzumachen und nicht unbeaufsichtigt zurück zulassen, hielten wir uns auch dran und schleppten Schlafsack, Isomatte, Zelt und alles, was man eben für zwei Wochen England-Radtour so braucht, mit auf die Kabinen. Danach war endlich Zeit, das Schiff zu erkunden: mit 240 Metern Länge und Platz für 230 Autos und 1200 Passagieren ein Koloss! An Bord gab es alles: Kino, Restaurants, Bars, Spielautomaten, TV, Shops… eine schwim­mende Kleinstadt!

Tag 2

Der nächste Tag begann extrem früh: gegen 5 Uhr wurde man unsanft durch das Bordradio geweckt und konnte sich noch mit Mühe und Not einen Kaffee organisieren. Schon kurz danach erreichten wir Harwich - im Südosten der Insel - bei herrlichstem Sonnenschein und großer Müdigkeit. Und gleich beim Runterradeln vom Schiff ging es los mit Linksverkehr… das war zu dieser Uhrzeit ganz schön anspruchsvoll, so dass wir uns erstmal ein nettes Plätzchen für ein Frühstück mit selbstgekochtem Kaffee (an dieser Stelle nochmal DANKE HELGE für dein permanentes Kümmern um unser leibliches Wohlergehen!) in der Dovercourt Bay suchten, natürlich mit Sandstrand zwischen Buhnen und erstem Baden in der Nordsee.

Auch war hier einmal die Gelegenheit, die Uhren den britischen Verhältnissen anzupassen und eine Stunde zurückzustellen. Es war dann also immer noch erst 8 Uhr als wir aufbrachen nach Dunwich und auf Dianas Karte sah das auch gar nicht weit aus – schließlich wollten wir auch mit zwei weiteren Fähren den Gesamtweg nach Dunwich nochmal deutlich abkürzen.

Das war dann die erste kleine Fähre, die uns über den Ästuar der Flüsse Stour und Orwell nach Felixstowe brachte. Eine weitere Fähre sollte uns später über den River Deben bringen. Sie war so klein, dass nur wenig mehr als sieben Leute samt Räder draufpassten, und die Fahrräder auch nur, wenn man vorher das gesamte Gepäck ablädt – das sollte aber nicht das letzte Mal an diesem Tag sein. Die zweite Fähre war dann nämlich noch winziger und als wir bei Ebbe in Bawdsey anlegten, mussten wir natürlich wieder alles ausladen und das schöne Café am Ufer hatte GESCHLOSSEN.

Aber wir hatten sowieso keine Zeit mehr zum Kaffee-Trinken; jetzt hieß es: Kilometer-schrubben, um unseren ersten Zeltplatz rechtzeitig zu erreichen. Vorbei ging es an Obstbäumen und riesigen Schweinezuchtanlagen auf freiem Feld… dann endlich kamen wir near Dunwich auf dem „Cliff House Holiday Park“ an, einem Zeltplatz auf einer Steilküste, mit direktem Strandzugang (Treppe), so dass man im Zelt das Meer rauschen hören konnte. Alle außer Micha waren total fertig – kein Wunder, hatten wir doch mal eben am ersten Tag der Radtour 80 Kilometer hingelegt! Trotzdem gingen ein paar Hartgesottene (Jana, Heiko, Micha und Jörg) noch zu einem Livekonzert auf dem Zeltplatz… und das war auch gut so, denn es sollte die einzige Live-Performance für die gesamte Reise bleiben, die wir erleben durften. Der Alleinunterhalter und Jörg verstanden sich trotz mangelnder Sprachkenntnisse bestens – in der Sprache der Musik gibt es eben keine Grenzen ;-) . Alle hatten einen Super-Abend.

Tag 3

Für den zweiten Tag hatte uns Micha versprochen, dass es deutlich weniger Kilometer als am Vortag bis zum Ziel – ein Zeltplatz am Stadtrand von Norwich – sein sollte. So quälten wir uns trotz schmerzender Glieder von der Ochsentour des Vortages wieder auf die Räder und fuhren Richtung Norden, vorbei an vielen Obst-, Gemüse- und Eierständen, die die Einheimischen vor ihren Cottages zum Verkauf aufgebaut hatten und die Ware anboten.

Am Ende des Tages waren es dann wieder stolze 70km, die wir bei Ankunft auf dem Öko-Naturzeltplatz hinter uns hatten, so dass alle viel zu k.o. waren, um von der Möglichkeit, Feuer zu machen (rent a firepit 3 Pound, Handy-aufladen immerhin 1 Pound) Gebrauch zu machen – statt dessen wurde auf Helges Brenner wieder etwas Leckeres zusammengebraut und Helge war vorher, so wie an JEDEM TAG der Reise, auch noch schwimmen, im wenig einladenden Kanal, wo ihn auch keiner begleiten wollte. Es war eine klare, sehr kalte Nacht mit Fast-Vollmond und ein Feuer wäre eine schöne Sache gewesen… aber so war es auch nett.

Tag 4

Am nächsten Tag war es nicht mehr weit bis Norwich, eine mittelgroße Universitätsstadt (200.000 Einwohner) in East of England, die unter anderem für ihre Kathedrale bekannt ist. Mittlerweile hatten wir auch schon zweimal das County gewechselt und befanden uns nun nach Essex und Suffolk in der Grafschaft Norfolk, deren Hauptstadt Norfolk ist. Nachdem wir uns die Kathedrale und die überaus historische Innenstadt angesehen haben - viele Straßenmusiker, viele Studenten – ging es weiter up north auf einer alten, lange stillgelegten Bahnstrecke, vorbei an ehemaligen Bahnstationen, die jetzt zu Pensionen umfunktioniert wurden. Wir machten einen Zwischenstopp in Algys Farm Shop, wo es alle möglichen Ökoprodukte gab – nicht aber das spezielle Liquid, was Helge (und damit wir alle) für den Kocher benötigte. Aber er wollte da noch etwas kombinieren… weiter ging es an alten Landsitzen vorbei, die direkt Kulisse bei der „Rocky Horror Picture Show“ hätten sein können. Und immer wieder standen alte Kirchen am Wegesrand, alle im gleichen Stil.

Die Mühen des Tages – immerhin wieder 65km, und das mit Hügeln und schwerstbeladen - wurden belohnt, als wir abends auf unserem Zeltplatz in Fakenham ankamen. Erst dachten wir, wir hätten uns verfahren oder Dianas OpenStreetMap-Navi hätte einen nicht mehr aktuellen Eintrag, denn der Zeltplatz befand sich auf einem Areal mit Golfclub, Tenniscourts und Pferderennbahn und war absolut posh – aber ein kleiner Flecken Gras wurde auch an Camper vermietet, wenigstens jetzt im August, weil die Saison erst im OKTOBER wieder beginnt (während sie in Hoppegarten am 3. Oktober endet…). Auch hier mussten wir wieder, trotz der exklusiven Umgebung, nur ca. 10 Pfund pro Person bezahlen – Zelten in England ist wirklich erschwinglich! Wieder wollte Helge ein Abendessen zubereiten, doch dann ging sein Kochgerät in Flammen auf und es gab was zu Löschen! Irgendwie hat er aber auch das wieder hinbekommen und es gab noch was Warmes zu essen für alle.

Den Abend haben wir im schicken Clubhaus bei Guiness und Candy ausklingen lassen und zwar indoor, weil es auch an diesem Abend für draußen zu frisch war.

Tag 5

Das schöne Fakenham mussten wir tags drauf gleich morgens wieder verlassen, um unseren Zeitplan einzuhalten. Heute sollte es nach Hunstaton gehen. Für uns hieß das erst einmal Radeln in Richtung Küste. In Wells-next-the-Sea gab es neben unserer Strecke die Kleinspurbahn The Wells & Walsingham Light Railway zu bewundern. Dort legten wir auch ein Pause an einem kleinen See Abraham's Bosom Lake (am Rand des Holkham National Nature Reserve) ein, obwohl das Meer nicht weit entfernt war. Auf dem weiteren Weg lag der schöne Holkham-Park – ein weites Gelände mit langen, geraden Straßen durch den Park; es ging immer bergauf und bergab. Die berühmte Holkham-Hall (Landhaus aus dem 18. Jahrhundert) haben wir zumindest von außen und weitem bewundern können.

Irgendwann abends, 60km später, erreichten wir unser Nachtlager, den Zeltplatz in Hunstanton, der zwar nur wenige Meter vom Strand lag, aber dennoch extrem unmaritim daherkam. Wir waren mitten in einer Touristenhochburg gelandet, direkt in der Nähe war ein großer Vergnügungspark, drum herum lagen riesige und ausgebuchte Caravan-Parks… aber immerhin hatten diese einen Shop und eine Laundry, wo einige erst einmal ihre Wäsche waschen konnten. Der Ausklang des Tages war dann trotz viel Beton statt Sandstrand dennoch ziemlich romantisch und mild, mit mittlerweile Vollmond und Blick auf die Nordsee.

Tag 6

Der Name des nächsten Etappenorts verrät schon etwas über die Landschaft, welche wir an diesem Tag erleben sollten: Marshland St. James. Die überwiegend weiten und flachen Gebiete ließen sich leicht mit dem Rad durchqueren. Auch hier gab es immer wieder kleine und große Sehenswürdigkeiten. So passierten wir u.a. einen beliebten Sommersitz der Queen, Sandringham House & Gardens. Es war sehr bedauerlich, dass keine Zeit war, um sich dieses Schloss (wie schon am Vortag auch Holkham-Hall) näher anzusehen, zumal sie während der Sommermonate auch für Besucher geöffnet werden – unter anderem, um mit sehr hohen Eintrittsgeldern einen Teil des Unterhalts dieser riesigen Gebäude wieder einzuspielen. Unterwegs besuchten wir auch die Stadt King's Lynn. Die Altstadt von King's Lynn ist sehr schön und zeugt von besseren Zeiten, als das Städtchen noch eine der größten Städte in England war und Standort der Hanse.

Am Abend des 18.08. erreichten wir unseren nächsten Zeltplatz - den Virginia Lake Caravan Park. Dort hatten wir reichlich Platz, da es nur wenige andere Gäste gab. Der kleine Teich, gleich nebenan, war nicht zum Baden gedacht, sondern eher ein Anglerparadies mit zahlreichen Sitzgelegenheiten. Jedenfalls war der überschaubare Campingplatz schnell erkundet. Das Abendessen bereiteten wir gemeinsam vor – trotz fehlender kompletter Küchenausstattung war es auch an diesem Abend wieder sehr lecker. Später am Abend unternahmen einige noch einen kleinen Spaziergang. Viel zu sehen gab es in dem kleinen Ort zwar nicht, dafür aber viele Sternbilder und Sternschnuppen am Firmament.

Tag 7

Am nächsten Morgen nach dem gemeinsamen Frühstück setzte wieder die Routine ein, Zelte packen und Räder beladen. Unser nächstes Etappenziel hieß Boston. Erst einmal fuhren wir jedoch weiter durch die gleiche ebene und eintönige Landschaft des Marschlandes wie am Vortag. Die Temperaturen waren wie immer tagsüber milde, aber dunkle Wolken zogen auf. Später sollten aus den einzelnen Tropfen richtige Schauer und danach länger anhaltender Regen werden. Außer vielen Feldern (vor allem Getreidefelder und Gemüsefelder) sowie verschiedenen Farmshops gab es wenig Sehenswertes. In der Ferne tauchten immer wieder kleine Dörfer auf, von denen die alten, ehrwürdigen Kirchen mit ihren typischen Türmen in Anglo-Normannischer Architektur immer zuerst zu sehen waren. Bei einem der vielen Farmshops (inkl. Gartencenter) machten wir eine längere Pause. Wir packten unsere Verpflegung aus, vervollständigten diese mit weiteren leckeren Zugaben aus dem Shop und ließen es uns schmecken. Weiterfahren mussten wir allerdings in Regenkleidung, denn es goss wie aus Kannen und der Regen hörte auch abends erst wieder auf. Dafür, dass es in England STÄNDIG regnen soll, hatten wir bisher jedoch großes Glück mit dem Wetter gehabt und so beschwerte sich auch niemand über den ersten britischen Regen nach immerhin sechs Tagen bestem Radelwetter.

Nachdem wir in der Stadt Boston kurz einkaufen waren und dabei festgestellt hatten, dass die Stadt nahezu komplett in osteuropäischer Hand ist – vor allem Polen und Litauer leben hier, wie in allen größeren Städten entlang der englischen Ostküste – erreichten wir abends einen sehr schönen Zeltplatz, abseits der motorisierten Caravangäste in einem kleinen Areal mit Pavillon und dazu ganz unter uns. Nach dem Zeltaufbau legten wir uns erst einmal trocken und belegten auch gleich den Pavillon mit Grillen und für einen kleinen Umtrunk mit englischen Bier (Ale). Das alles hatten wir uns nach 75km Tagespensum auch redlich verdient!

Tag 8

Am Samstag-Morgen besuchten wir in Boston eine 200 Jahre alte Windmühle, die immer noch in Betrieb war! In der Maud Foster Windmill gibt es einen Verkaufsraum für kleine handgemachte Köstlichkeiten – traumhaft. Über Stiege und Leitern ging es in die Höhe, um das Innenleben der funktionierenden Mühle zu begutachten (immerhin 7t Mehl pro Woche). Ein wenig Vorsicht war auch angebracht, da es viele bewegliche Teile gab. Von oben hatten wir einen tollen Ausblick auf die Umgebung. Gleichzeitig war da die Gewissheit, dass man den Flügeln einer Mühle noch nie so nah war. Von der Mühle im Nord-Osten der Stadt Boston gelegen, ging es weiter Richtung Nord-Westen. Unser Tagesziel war Lincoln. Die Landschaft änderte sich so gut wie nicht und wir radelten den ganzen Tag ruhig dahin. Eine Pause legten wir erst wieder im Riverside Cafe & Store ein. Ein richtiger Tante-Emma-Laden auf dem Dorf. Es gab Alles und Nichts zu kaufen. Einige nutzten die Pause für ein typisch englisches Essen. Danach ging es weiter an Flüssen und Kanälen entlang. Die ruhigen Plätzchen, an denen wir vorbei kamen, luden auch zu der einen oder anderen Pause ein und Helge wurde auch hier wieder als Einziger magisch zum Wasser hingezogen.

An diesem Tag blies der Wind sehr kräftig, es war jedoch zu unserem Vorteil: wie fast immer hatten wir mal etwas mehr oder weniger Rückenwind. Die Kathedrale von Lincoln, auf einem Hügel gelegen, bestimmt das Bild der Landschaft in diesem Teil von Lincolnshire. Sie lag quasi den ganzen Tag vor uns und kam immer näher. Bevor wir den Berg zur Kathedrale erklimmen konnten, führte uns der Weg noch zum Bahnhof. Wir wollten die Möglichkeit erkunden, die Stadt York zu besuchen. Da dieser Abstecher (abseits vom Nordseeküstenradweg) für unsere Radtour jedoch zu weit war, war der Zug eine mögliche Wahl. Es stellte sich jedoch heraus, dass Zug und Fahrrad in England für eine größere Gruppe keine Option darstellt. In den Nahverkehrszügen gibt es nur sehr begrenzt Platz für Fahrräder. So musste Micha den Gedanken mit der York-Besichtigung wieder fallen lassen. Eine Zugfahrt sollte es dennoch am nächsten Tag für zwei Radler geben. Aber davon später mehr. Um die Kathedrale in Lincoln (The Cathedral Church of St. Mary) zu besuchen, stand uns erst einmal noch ein steiler Weg bevor. Auf einem Berg hoch über der Stadt gelegen, war an einen Besuch der Kathedrale mit dem Rad nicht zu denken. Zu Fuß oben angekommen, erwartete uns eines der bedeutendsten Werke der englischen Gotik. Da auf dem Castle Hill (zwischen Kathedrale und Lincoln Castle) an diesem Samstag auch ein Markt stattfand, waren wir leider nicht die einzigen Besucher. Das dichte Gedränge war ein deutlicher Gegensatz zu dem ruhigen, ländlichen Marschland der letzten Tage. Am Nachmittag fuhren wir weiter zu dem anvisierten Zeltplatz einige Kilometer außerhalb der Stadt. Dieser war jedoch bereits ausgebucht. Da wir aber nicht mehr die Muße hatten, weitere 20km bis zum nächsten Zeltplatz zu fahren, überzeugten wir die Zeltplatzverwalterin, uns doch noch irgendwo unterzubringen. So landeten wir auf der „Pokémon-Wiese“. Dort widmen sich jeden Abend die überwiegend jungen Spieler ihrer irren virtuellen Monster-Jagd. Uns störten sie jedoch nicht.

Tag 9

Am Sonntag (21.08.) teilte sich unsere Truppe vorübergehend auf: Jana und Heiko fuhren mit dem Zug nach Hull, um dort die Möglichkeit einer alternativen Heimreise per Schiff mit Fahrradmitnahme zu erkunden – nachdem die Busgesellschaft Flixbus Jana per Mail lapidar mitgeteilt hatte, dass sie ihr Fahrrad auf der Rücktour leider nicht mitnehmen können. Alle anderen fuhren auf dem Nordseeküstenradweg weiter und abends wollten sich alle wieder auf einem Zeltplatz bei Hull am Fuße der Humber Bridge zusammenfinden.

Kingston upon Hull (von den Einheimischen so ausgesprochen, wie wir es sprechen würden) ist eine wunderbare Stadt – sehr modern und etwa 250km nördlich von London, in der Grafschaft Lincolnshire gelegen; es gibt hier eine Universität und eine Seemannsschule. Überhaupt sind der Hull und der Humber allgegenwärtige Flüsse und die dazugehörige Humber Bridge – eine der längsten einseiligen Hängebrücken der Welt! - von überall gut sichtbar; die großen Fähren, die täglich nach Zeebrügge (Belgien) und Rotterdam verkehren, ebenso. Der Hafen allerdings liegt weit vor den Toren der Stadt und ist mit dem Fahrrad nur entweder über eine sehr hässliche und laute, nicht enden wollende Schnellstraße (Hinweg) erreichbar oder wunderschön auf der Uferpromenade entlang des Hull stadteinwärts, immer mit der Humber Bridge vor Augen auf dem Rückweg. Man muss sich halt auskennen! Jedenfalls unterschätzten wir auch a) die Größe der Stadt und wie weit alles voneinander entfernt war, b) die Länge der Brücke (2200m), über die man in JEDEM FALL musste und deren Auffahrt man auch in der zunehmenden Dämmerung erst einmal irgendwie finden musste, um zum Zeltplatz zu gelangen und c) den erst leicht tröpfelnden und dann immer heftiger werdenden Regen.

So schafften wir es nicht mehr zu den anderen zum vereinbarten Treffpunkt, dafür jedoch ins Trinity Hull Hostel im Altstadt-Zentrum von Hull – für ein allerletztes Hosting, bevor es am nächsten Tag umfassend umgebaut werden sollte und als einzige Gäste! Es war auch mal schön, nicht so viel Fahrrad fahren zu müssen (diesmal nur 40km) und bei strömendem Regen nicht zu zelten, sondern ein festes Dach überm Kopf zu haben.

Schön war es aber auch, sich am nächsten Tag wieder zu treffen und Erlebtes auszutauschen. Die anderen hatten 80km mit zum Teil extrem bergiger Landschaft hinter sich und es flossen sogar Tränen wegen der Anstrengung… Da die Transportbedingungen für Fahrräder in britischen Zügen so unflexibel sind – wenngleich Fahrradmitnahme dafür kostenlos ist – teilten wir uns in Zweiergruppen auf die jeweils stündlich fahrenden Züge auf, um zum nächsten Etappenziel zu gelangen, das endlich mal wieder direkt am Meer liegen sollte: in Scarborough, einem bedeutenden Badeort in der Grafschaft Yorkshire, waren wir dann dementsprechend schnell und schon am Nachmittag konnten wir auf unserem Zeltplatz „Scarborough Camping and Caravanning Club“ einchecken, der auf der Steilküste lag. Dort trafen wir auch Chemnitzer Urlauber mit ihren Wohnmobilen und tausende weitere Camper. Es war ungewohnt für die Tour, so kommerziell und als Teil des Massentourismus untergebracht zu sein (und auch die einzige derartige Übernachtung auf der ganzen Reise). Es hatte jedoch auch praktische Seiten, weil der Badestrand ganz in der Nähe war und vor allem auch ein Restaurant mit Meeresblick, in das uns Micha nach einem Kassensturz abends ausführte: wir hatten so wenig ausgegeben bisher, dass das locker drin war. Alle freuten sich über diese Abwechslung und bestellten sich Gerichte, die auf der Tour schon wegen der Umstände niemals auf der Speisekarte gestanden hätten: Fish & Chips, Chicken Massala oder Kings Prawns, dazu passte wie immer auch wieder Ale. Auch schön: milde Nacht mit vielen, vielen Sternschnuppen.

Tag 10

Gut erholt brachen wir am nächsten Morgen auf, der North York Moors National Park lag nun vor uns. Als Radweg ausgebaute ehemalige Bahnstrecken (vorbei an alten Bahnwaggons die jetzt ein Hostel sind), wenig genutzte Landstraßen und unbefestigte Wege wechselten sich auf Bergauf- und Bergab-Strecken ab. Den Nordseeküstenradweg entlang konnten wir immer wieder einen wunderschönen Blick von der Steilküste genießen. So auch bei der Pause in Robin Hoods Bay beim Victoria Hotel. Einige von uns nutzten die Gelegenheit, auch einmal ein Stück zu Fuß zu laufen - auch wenn es nur der Fußweg die Steilküste hinunter zum Steinstrand war. Kurz vor Whitby überquerten wir das Larpool Viaduct der ehemaligen Bahnstrecke Whitby – Scarborough und unter uns entdeckten wir auf der aktuellen Bahnstrecke eine historische Dampflock… klein wie eine Modellbahn.

Whitby, ein kleiner typisch-englischer Küstenort mit einem Hafen, charaktervollen alten Gebäuden und den Ruinen der Abtei, lag auf unserem Weg. Auf den belebten Straßen der Stadt flanierten Urlauber und hörten Straßenmusikern zu. Das Folkfestival in Whitby, was gerade stattfand, zog neben uns auch zahlreiche musikbegeisterte Fans in ihren Bann. Hoch oben über der Stadt liegt das ehemaliges Kloster Whitby Abbey und St. Mary's Church (heutzutage mit Übernachtungsmöglichkeit im Hostel Whitby Abbey House). Diese Kulisse inspirierte den irischen Schriftsteller Bram Stoker zu seinem berühmtesten Roman - Dracula. Nach ein paar erholsamen Stunden fuhren wir weiter die Küste entlang in Richtung Staithes. Der angestrebte Zeltplatz existierte als solcher nicht mehr (Trig Campsite), aber trotzdem blieben wir an diesem Ort. Nach einigen Anfangsschwierigkeiten stand uns durch die Mithilfe von anderen Campern (wir bekamen einen Zugangscode für eine Baracke mit allem: Bad, Küche…) nun der kleine Ort offen. Unser Lagerplatz lag auf einer Hochfläche mit schönem Ausblick. Das Fischerdorf unter uns war gemütlich und überschaubar. Der kleine Hafen, Pubs und ein paar Geschäfte luden zum Bummeln und Baden ein. Wir konnten am Hafen auch sehr gut das Spiel von Ebbe und Flut beobachten.

Tag 11

Nach einem morgendlichen Bad in der Nordsee ging unsere Reise weiter in Richtung Hartlepool. Schweißgebadet und nach Luft schnappend ging es für uns wieder bergauf und auch wieder bergab. An einer besonders langen Steigung nahe der Ortschaft Boulby machten wir auch Bekanntschaft mit einer sehr freundlichen alten englischen Dame. Sie sah uns die Anstrengung an und bewirtete uns mit kühlen Getränken und leckeren englischen Köstlichkeiten – eine willkommene Abwechslung auf dem Weg zu der mit 203 Metern höchsten Steilküste Englands. Später am Tage erreichten wir die Industriestadt Middlesbrough. Wir durchquerten jedoch nur die Randgebiete der Stadt, ohne ins Stadtzentrum vorzudringen. Wir überquerten auf unserem Weg den Tees mit einer Schwebefähre, genannt Transporter Bridge, und radelten auch gleich weiter in Richtung Tagesziel, Hartlepool.

In der englischen Geschichte ist Hartlepool für eine skurrile Legende bekannt: die Hinrichtung eines Affen. Während der Napoleonischen Kriege lief ein französisches Schiff auf Grund und ein Affe war der einzige Überlebende. Da aber die Einwohner nicht wussten, wie ein Franzose aussieht, wurde der Affe der Spionage beschuldigt und gehängt. Noch heute hat deshalb der Fußballclubs Hartlepool United einen Affen namens H’Angus the monkey als Maskottchen.

Kurz vor dem schon sichtbaren Zeltplatz gab es noch ein weiteres Hindernis zu überwinden. Wir befanden uns auf der falschen Seite einer Bahntrasse und zur Überquerung mussten wir die Räder samt Gepäck über eine Fußgängerbrücke tragen, da keiner die Lust verspürte, nach einem Bahnübergang zu suchen und zusätzliche Kilometer zu fahren. Auf der anderen Seite angekommen, sorgte eine mangelhafte Abstimmung aber trotzdem für weitere Kilometer. Die Radler an der Spitze passierten den Zeltplatz in dem Glauben, dass dies nicht der Richtige ist. So verloren wir uns aus den Augen und begannen uns gegenseitig zu suchen. Irgendwann war es dann doch geschafft und wir schlugen unsere Zelte unter Apfelbäumen auf.

Tag 12

Am nächsten Morgen war es feucht und kühl, so wie wir es gar nicht mochten. Nach dem Zusammenpacken teilten wir uns wieder in zwei Gruppen auf. Einmal ging es direkt mit dem Zug nach Newcastle um Janas Reise- bzw. (Fahrrad-)Transportproblem zu lösen und die zweite Gruppe fuhr mit dem Rad nach Sunderland.

Newcastle, einst die römische Festung Pons Aelii am Hadrianswall gelegen, entwickelte sich im Laufe der Jahrhunderte zu einem wichtigen Kultur- und Wirtschaftszentrum (v.a. Kohle und Wollstoffe). Nach dem Boom im Schiffbau entstanden dort u.a. auch Fabriken für den Bau von Dampflokomotiven, gegründet von Robert Stephenson, dem wohl bekanntesten Sohn der Stadt. Das heutige Stadtbild wird besonders durch die Brücken über den Tyne und durch zahlreiche Touristen geprägt.

Für Jana begann nach der Nacht in Newcastle eine z.T. abenteuerliche Heimreise mit Zug ab Newcastle und Bus ab London. Besonders der Verkehr in London vom Bahnhof zum Busbahnhof erwies sich als eine große Herausforderung. Dagegen war die Fahrradmitnahme im Bus dann aber doch noch ein leicht zu lösendes Problem. Alle übrigen Radler vereinigten sich nach weiteren Kilometern auf dem Sattel am Abend wieder im nordenglischen Southshields auf dem Zeltplatz. Unweit vom Meer gelegen, nutzten wir die Möglichkeit zum Besuch der Standbar "Marsden Grotto", hierzu ging es per Fahrstuhl die Steilküste hinab direkt ans Wasser - mit einem idyllischen Ausblick auf das Meer und einen Vogelschutzfelsen.

Tag 13

Ein sonniger Morgen leitete den letzten Tag auf der Insel ein, d.h. ein letztes Mal Zelte abbauen, Sachen packen und auf dem Fahrrad verstauen. Wir radelten auf den Weg zur Fähre immer am Strand entlang nach Newcastle. Eine Pause am Seaburn Beach nutzen einige auch für ein letztes Bad in der Nordsee. An dem schönen und breiten Sandstrand hatten wir viel Platz, da nur wenige Engländer bzw. Touristen trotz Sonnenschein zum Baden kamen. Das nur mäßig warme Wasser lockt eben nicht jeden an den Strand. In North Shields, einer kleinen Stadt unweit von Newcastle, gab es auch ein letztes Essen in England während dieser Tour. Von dort aus waren es nur noch wenige hundert Meter zu der Fähre, die uns auf der Route Newcastle – IJmuiden wieder über die Nordsee bringen sollte. Wir checkten gegen 15:00 Uhr auf der Princess Seaways (einem Fährschiff der dänischen Reederei DFDS) ein und machten uns erneut mit einem riesigen Schiff vertraut. Die Fähre war ähnlich groß wie das Schiff, welches uns zu Beginn der Reise über die Nordsee brachte. Die Abendunterhaltung an Bord bestand v.a. aus Live-Musik, Bingo und einem letzten englischen Bier.

Tag 14

Nach einer ruhigen Nacht auf der Fähre und der Möglichkeit auszuschlafen, trafen wir am Vormittag in IJmuiden ein. Eine letzte Fahrradetappe führte uns von der Küste nach Amsterdam zum Bahnhof. Damit hatten wir einen krassen Wechsel von den nordenglischen ländlichen Gebieten unserer Tour zu dem Großstadtgewimmel mit unzähligen Fahrrädern in Amsterdam. Die Stadt mit ihren traumhaften Bedingungen für Radfahrer konnten wir allerdings nicht mehr erkunden, denn auf uns wartete die Heimreise per Zug.

Jana und Heiko


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